Beschreibung

„Ein weißer Elefant, bedeckt mit einem Goldnetz, läuft herbei und schüttelt den Büschel von Straußenfedern auf seinem Stirnband.
Auf seinem Rücken liegt unter Kissen aus blauer Wolle und mit gekreuzten Beinen, halb geschlossenen Augenlidern und den Kopf wiegend, eine so prachtvoll gekleidete Frau, daß Strahlen von ihr ausgehen. Die Menge wirft sich nieder, der Elefant beugt die Knie, und Die Königin von Saba läßt sich über seine Schulter gleiten, tritt auf die Teppiche, schreitet auf den heiligen Antonius zu.
(…)
Sie schüttelt im Gehen einen grünen Sonnenschirm mit elfenbeinernem Griff, an dem vergoldete Glöckchen hängen – und zwölf krausköpfige Negerknaben tragen die lange Schleppe ihres Kleides, deren äußersten Zipfel ein Affe hält und von Zeit zu Zeit hochhebt.
Sie sagt:
Ah! Schöner Eremit! Schöner Eremit! Mir vergeht das Herz!“

(Gustave Flaubert: La Tentation de saint Antoine. Version definitive, Deutsch von Felix Paul Greve, 1909)

Als Klappentext einer alten Taschenbuchausgabe von Flauberts Roman Die Versuchung des heiligen Antonius, erschienen im Jahr 1874, las ich folgenden Kommentar von Sigmund Freud: „Ein Buch, was in gedrängtester Weise, in
unübertrefflicher Plastik einem den ganzen Weltenplunder geradezu an den Kopf wirft , und zwar nicht nur die großen Probleme der Erkenntnis, sondern die echten Rätsel des Lebens, allen Widerstreit der Gefühle und Neigungen wachruft und das Bewußtsein der eigenen Ratlosigkeit in der allgemeinen Rätselhaftigkeit über alles herrschend etabliert.“ Dieses über alles herrschende Bewusstsein der eigenen Ratlosigkeit ist der tradierte Raum von Kunst und Philosophie. Spätestens seit Flaubert ist Schönheit in der Kunst nur noch gebrochen im Spiegel der Ironie überliefert. Aber selbst als im Klischee erstarrte sendet sie weiter Strahlen ihrer rätselhaften Kraft.

Nikolaus Brass
November 2021